Was ein gutes Leben mit Handarbeiten zu tun hat: 6 Tipps zum Nachmachen
Die Bergbäuerin Balbina zeigt mir, wie ein gutes Leben gelingen kann. Wo sie lebt, kommt man nicht einfach so oder zufällig hin. Man muss schon einen Grund haben. Wer nicht hier wohnt, kommt vermutlich Verwandte besuchen.
Das Haus ist über ein Seitental des Seitentals vom Haupttal erreichbar. Nach einer kehrenreichen Straße tut sich eine kleine Ebene auf. Ich fahre die Straße entlang bis zum vorletzten Haus. 50 Meter weiter vorn ist die Straße zu Ende. Links und rechts der Straße ist der Berg, vorn fällt das Gelände wieder steil und felsig ab. Direkt rechts von mir steht mein Ziel: das Bauernhaus, in dem Balbina lebt. Bis ich dort angekommen bin, begegne ich zwei Anrainern. Mein Gruß aus dem Auto wird jeweils zögernd erwidert.
Hier ist nichts von der Geschäftigkeit und dem Lärm des Haupttals zu spüren. Es gibt überschaubare Wiesen, kleine Weiden, hie und da ein Bauernhaus und: die Stille. Alles ist beschaulich und wie aus dem Prospekt der Tirolwerbung. Hier also lebt Balbina, die ich heute besuchen werde. Angeblich ist sie eine begnadete Handarbeiterin, wie ich von der Bezirksbäuerin erfahren habe.
„Ja, ich denk halt das ganze Jahr“
Eine konkrete Vorstellung von Balbina habe ich mir nicht gemacht. Am Telefon war sie freundlich, aber bestimmt, was die Terminvereinbarung betraf. Auf die Dame, die ich dann treffe, war ich jedenfalls nicht gefasst. Sie erscheint mir wie der personifizierte Gegensatz zu der Landschaft, in der sie lebt. Mit ihren 83 Jahren ist sie ein echtes Energiebündel.
Balbina sitzt kaum still, im Gespräch fällt ihr immer wieder Neues ein, das sie zur Illustration ihrer Erzählung holen will, sie verschwindet in einem Raum, ich höre sie kramen, sie erzählt laut und unsichtbar weiter und kommt von einer Geschichte zur nächsten. Sie zeigt mir Fotoalben und Ordner mit Zeitungsausschnitten. Dabei verliert sie nie den roten Faden und es kommen immer neue Handlungsstränge dazu.
Überhaupt: meinen vorbereiteten Gesprächsleitfaden kann ich bei Balbina vergessen. In einer Assoziationskette springt sie von einem Thema zum nächsten. In ihren Bewegungen ist sie unglaublich schnell, sie gerät auch nicht außer Atem, selbst beim Aufwärtsgehen in ihre Wohnung im Dachgeschoss des seit vielen Jahren an den jüngsten Sohn übergebenen Bauernhofs. Und auf diese Schnelligkeit im Kopf bin ich genauso wenig vorbereitet. Ich notiere, was mir wichtig vorkommt, sie überfordert mich mit einer Flut von Namen, Jahreszahlen, Fotos. Sie merkt das und meint: „Die Leute sagen zu mir: ‚Was dir immer alles einfällt!’“ Und Balbina antwortet dann: „Ja, ich denk halt das ganze Jahr!“.
Vom ledigen Kind zur Bergbäuerin
Ich erfahre ich viel über ihren Weg zu einem guten Leben und ihre Lebensgeschichte. Zum Beispiel wie sie zu ihrem Namen gekommen ist: „Der Pfarrer hat zu meiner Taufpatin gesagt: ‚Nehmt nicht immer dieselben Namen, schaut im Kalender nach!’“. Oder dass die Heilige Balbina einen Orden mit 1.200 Jungfrauen gegründet hat, um ihre eigene Jungfräulichkeit abzusichern: „Wie die Leute damals gedacht haben, das musst du dir vorstellen!“.
Ihr Lebensweg war nicht einfach. Mit ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrer Lebenstüchtigkeit und ein bisschen Glück hat sie auf ihre Art zu einem guten Leben gefunden.
Ich höre, wie sie als sogenanntes lediges Kind mit ihrer alleinerziehenden Mutter im Rahmen der sogenannten Option aus Südtirol nach Tirol gekommen ist und wie sie über viele Umwege als Helferin endlich auf einen Bauernhof gekommen ist: „Ich wollte unbedingt mit Tieren etwas machen, früher hast du die Kälber mit der Hand gefüttert“. Dort hat sie dann nach zwei Jahren den 13 Jahre älteren Bauern geheiratet, fünf Kinder bekommen und ein glückliches Leben geführt.
So geht also ein gutes Leben für Balbina: „Ich bin auf der Wiese gesessen, hab aufs Haus hinuntergeschaut und bin mir vorgekommen wie der König“.
Jeder Grashalm wertvoll
Sie erzählt von ihren Kindern, den Enkelkindern, den Nachbarn. Den Tieren auf ihrem Hof, dass sie eine Original Braunvieh-Kalbin des Sohnes 2005 auf einer Ausstellung den ersten Preis gemacht hat, dass „die Jungen“ jetzt Jungvieh aufziehen und Hennen und Sahnenziegen haben. Sie berichtet, warum ein Vorfahre die Hofkapelle errichtet hat: als Dank für ein kuriertes Beinleiden. „Die Krücke hängt noch in der Kapelle“.
Sie erzählt, wie sie früher das Heu mit Buren vom Berg geschleppt haben und dass jeder Grashalm wertvoll war. Die harte Arbeit scheint ihr nichts ausgemacht zu haben. Für sie scheint das Tätig-Sein an sich eine Voraussetzung für ein gutes Leben zu sein. Sie zeigt mir Fotos, wie sie das Heu zusammengerecht, mit elf Meter langen Seilen zusammengebunden haben und ein Mann letztlich einen Packen mit 50 Kilo Heu am Kopf getragen hat: „54 Buren haben wir immer zusammengebracht“.
Ich höre, dass in ihrem kleinen Dorf früher zehn Leute gewohnt haben und es jetzt über fünfzig sind. Dass es eine Mühle gab, die man nicht mehr brauchte, als 1962 der Strom kam. Über die Tatsache, dass eine Straße herauf gebaut wurde, hat sie zuerst geweint und sich dann gefreut.
Die richtige Einstellung für ein gutes Leben
Überhaupt war Balbina zunächst über jede Veränderung traurig und hat sich dann aber schnell darauf eingestellt und die positiven Seiten gesehen. Ich glaube, dass das eines ihrer Geheimnisse für ein gutes Leben ist. Die Straße hat für Balbina dann doch auch eine große Erleichterung gebracht, der Weg ins Tal war nicht mehr so beschwerlich.
Ähnlich war es, als ihr die Schwiegertochter sagte, sie brauche nicht mehr im Stall mithelfen: „Da bin ich zuerst ins Zimmer zum Weinen gegangen“. Balbina ist aber keine, die sich nicht auf neue Situationen einstellen kann. „Jetzt spiel ich mit der Nachbarin Karten.“ Und sie strickt. All das gibt ihr Kraft für ein gutes Leben.
Was man mit Wolle alles machen kann
Sie zeigt mir einen ganzen Korb voll Socken und Handschuhe, die sie gemacht hat. Zu jedem Paar gibt es eine Geschichte, wer genau welches Paar warum bekommen wird. Die Socken sind auf eine bestimmte Art gemacht: die Ferse so, wie es bei uns üblich ist, die Abnahme an der Spitze habe ich so noch nie gesehen. Ich finde das dekorativ. Doch der Grund dafür ist ein praktischer. Balbina: „Die Abnahmen mach ich so, damit der Socken im Schuh nicht drückt.“ Heute strickt sie die Socken aus gekaufter und strapazierfähiger Sockenwolle.
Die Wolle der eigenen Schafe hat sie früher auch verarbeitet. Ein Sohn hat sich nämlich Braune Bergschafe zugelegt. „Das mit den Schafen wollte mein Mann zuerst nicht. Aber ich hab ihn gefragt, ob er möchte, dass der Hof übernommen und weitergeführt wird. Dann müsse er akzeptieren, wie unser Sohn das machen möchte. So hat er wohl zugestimmt.“
Einen richtigen Tiroler Bauern davon zu überzeugen, dass sein Sohn sich von der sprichwörtlich heiligen (Milch)kuh entfernt und auch Schafe züchtet, dazu gehört schon einiges. Balbina hier einerseits Toleranz ihrem Sohn und Durchsetzungskraft ihrem mittlerweile verstorbenen Mann gegenüber gezeigt. Wenn ich über Balbina nachdenke, möchte ich auch hier sagen: das sind beides Voraussetzungen für ein gutes Leben.
Diese Wolle der Schafe ihres Sohnes hat sie also gefilzt. Sie hat die geschorene Wolle gewaschen und hat sie „kardatschen“ (kardieren) lassen, damit sie das so vorbereitete Wollfließ nass filzen konnte. Sie hat Jacken gefilzt und Bettdecken, die sie dann mit einem Leinenstoff überzogen und mit der Hand gesteppt hat. Sie hat unzählige Hauspatschen von Hand über Leisten gefilzt, die ganze Familie damit ausgestattet.
Typsache
Das Filzen ist ihr gelegen, das Spinnen weniger: „Die Alten haben noch selbst Wolle gesponnen. Meine Mutter musste jeden Samstag Nachmittag spinnen. Ich hab das Spinnen nicht so gemocht.“ Ich kann mir Balbina schlecht vorstellen, wie sie auch nur zehn Minuten am Spinnrad sitzt und im immergleichen Bewegungsablauf nichts anderes tut, als einen langen Faden zu produzieren. Begeisterte Spinnerinnen empfinden genau das als reizvoll und meditativ. Welche Handarbeitstechnik man gerne ausübt, ist wohl auch eine Typsache.
Grundstock in der Schule
Die Grundlagen für ihre Fertigkeiten hat sie vor mehr als 70 Jahren in der Volksschule am Grenzort gelernt. Mit Zöllner- und Gendarmeriekindern lernte Balbina hier Kunststricken, Häkeln, Stopfen und Flicken. Die Lehrerin war streng, alles musste genau sein. Heute ist sie ihr dankbar dafür. Viel gelernt hat sie auch von einer Cousine, die Nonne bei den Haller Tertiärschwestern war. Sie hat ihr gezeigt, wie man Schächtelchen aus Tapeten faltet und Grußkarten mit getrockneten Blumen verziert. Die Schachteln werden zum Beispiel als hübsches Behältnis für selbst gestrickte Babysocken zum Verschenken gefaltet.
Unkonventioneller Fleischautomat
Balbina nutzt ihr Wissen über die verschiedensten Techniken auf eine unglaublich kreative Art und Weise. Es gibt kleine Geschenke zu allen Anlässen. Damit verschenkt sie ein kleines Stück vom guten Leben an andere. Als bei einer Bäuerinnen-Veranstaltung ein paar runde Geburtstage gefeiert wurden, bekam jede Jubilarin von Balbina eine solche selbstgebaute Schachtel mit einer Mausefalle drin, von ihr augenzwinkernd als „Fleischautomat für Notfälle“ beschriftet.
Das Material für diese Schachteln stammt immer noch aus dem Nachlass der verwandten Nonne. Balbina ist es gewohnt, mit dem Vorhandenen zu haushalten. „In meiner Generation gab es viele Handarbeiterinnen. In den Bauernhäusern ist überall gestrickt worden.“ Es gab Socken, hin und wieder einen Tuxer, der dann viele Jahre getragen wurde. Man schätzte das, was einem zur Verfügung stand, und wusste, aus wenig viel zu machen.
So gelingt ein gutes Leben
Das ist auch genau das, was mir an Balbina so gefällt: sie weiß, wie man das Vorhandene gut nutzt und wie man sich auf Veränderungen einstellt. Für mich hört sich das nach einem Rezept für ein gutes Leben an. Balbinas Zutaten sind: Anpassungsfähigkeit, ihrer Lebenstüchtigkeit, Kreativität, Toleranz, Durchsetzungskraft und ein bisschen Glück.
8 Comments
Madeleine Oberle
Den Artikel über Balbina finde ich toll und sehr interessant. Es ist schön, dass wieder mehr gehandarbeitet wird…. zwischendurch gab es nur schaurige Wolle und Anleitungen. Bin selbst begeisterte Strickerin….seit 54 Jahren….oje. Meine Uroma hat es mir mit 9 Jahren beigebracht. Und diese Weihnachten haben viele Leute davon profitiert. So lässt sich ein Lockdown gut aushalten.
Über neue Inspirationen würde ich mich sehr freuen.
Danke.
Karin
Liebe Madeleine,
danke für den schönen Kommentar. Über die schaurigen Anleitungen musste ich wirklich lachen. Das stimmt nämlich. Da hat sich zum Glück viel geändert in jüngerer Zeit. Schön, wenn du deine Lieben mit Handgestricktem beschenkst! Für weitere Inspirationen bitte gern meinen Newsletter abonnieren, freu mich über jede einzelne Abonnentin 🙂
Weiterhin viel Freude beim Stricken und alles Gute!
Karin
Angelika Pfaff
Liebe Karin.
Habe eben deinen Bericht von Balbina gelesen und finde in sehr schön geschrieben.
Ja ich befürchte auch das vieles an altem Wissen ausstirbt weil sich zu wenige heute noch dafür interessieren.Dein Bericht hat mich sehr an meine eigene Mutter erinnert denn sie hat mir vieles mitgegeben -wofür ich in jüngeren Jahren auch wenig Interesse zeigte-…
Sie hat sich zb sehr nach der“Hildegard“Medizin orientiert,hat viel mit Dinkel gekocht und ihr Brot gebacken.
Statt Schmerztabletten zu schlucken hat sie Umschläge mit Schweden Kräuter gemacht und es hat ihr geholfen!
Handarbeit war ihr Lebenselixier,ob Garten, Hausarbeit und natürlich auch stricken.Vor allem für uns Kinder.Meine ältere Schwester und ich hatten zb zwei gestrickte Kleider die wir lange getragen haben,vor allem ich dann später das von meiner Schwester.Wir waren Nachkriegskinder und damals musste alle Kleidungsstücke aufgetragen werden.Von den Socken mit denen sie uns alle später im Alter noch versorgte habe ich auch noch ein paar.
Habe einiges von ihr übernommen, Handarbeit ist zum Beispiel auch meine Leidenschaft.Zwar nicht gerade das Socken stricken,aber Strickzeug liegt immer parat,oft zwei angefangene Sachen die dann parallel fertig werden.Stricke oder haekle heute fast nur noch für mich, würde manches gerne verschenken aber hab schon die Erfahrung gemacht das es in unserer schnellebigen Zeit nicht geschätzt wird.
Alles Gute und herzliche Grüße A.Pfaff
Karin
Liebe Angelika,
lieben Dank für deinen Kommentar und die schöne Geschichte. Deine Mutter war sicher eine tolle Frau, die vieles gewusst hat und ihr Wissen auch angewenden konnte. Die Strickkleider kann ich mir gut vorstellen. Schön, dass du von ihr lernen konntest. Ich habe schon das Gefühl, dass die Leute all das langsam wieder zu schätzen beginnen. Das Handgemachte und Selbstgekochte und natürlich auch die Naturmedizin.
Wenn du mit deinem Selbstgestrickten und Gehäkeltem jemanden eine Freude machen möchtest: in größeren Städten gibt es meist eine Institution, die sich um Obdachlose kümmert. Die sind oft im Winter froh um Mützen, Schals und Socken. Manche Krankenhäuser mögen auch gern kleine Mützchen und richtig kleine Babykleidung für Frühgeborene. Da findest du sicher dankbare Abnehmer. Manchmal gibt es dafür auch so gemeinschaftliche Strickgruppen.
Liebe Grüße, auch für dich alles Gute und weiterhin viel Freude beim Stricken und Häkeln
Karin
Mersca Berger
Ein wunderbarer Bericht. So versuche auch ich mein Leben zu gestalten: auf das Positive schauen.
Was mich im Bezug auf altes Wissen neu interessiert, was ist das Besondere an Balbinas Sockenspitzen.
Für die Fersenanleitung bedanke ich mich herzlich.
LG Mersca
Karin
Vielen herzlichen Dank für die Nachricht, das freut mich sehr. Wegen der Sockenspitze: Wie Balbina sie genau strickt, weiß ich leider nicht. Vielleicht bekomme ich noch einmal die Gelegenheit, sie zu fragen. Alles Gute und liebe Grüße!
Christine
Hallo Karin,
Im vorherigen Beitrag ging es darum, den 2. Socken zuerst zu stricken. Kannst du mir bitte erklären wie das gemeint ist?
Danke für die Fehlerbeseitigung nach dem Stricken der Fersenwand. Hat mir sehr geholfen.
Karin
Hallo liebe Christine, fein, dass die meine Seite weiterhilft! Der Ratschlag mit der zweiten Socke ist augenzwinkernd gemeint. Natürlich kannst du die zweite Socke nicht vor der ersten stricken 😉 Liebe Grüße, Karin