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Landwirtschaft,  Menschen

Gemeinschaftliche Landwirtschaft: 40 Gemüsesorten und 105 Ernteteiler:innen

Gesundes Essen, lebendiger Boden und Partnerschaft statt Überproduktion, Ausbeutung und Bauernsterben: Gemeinschaftliche Landwirtschaft ist eine Alternative zur konventionellen Landwirtschaft. Wie diese Idee umgesetzt werden kann, zeigt eine Ernte-Initiative in Hall in Tirol.

Schon oft bin ich an dieser Mauer vorbeigefahren. Sie ist aus Stein, rund drei Meter hoch und ein paar hundert Meter lang. Wenn ich sie sehe, bin ich meist auf dem Weg ins Halltal, den Blick auf die Berge und die Gedanken auf die bevorstehende Tour gerichtet. Vielleicht habe ich mich deshalb nie gefragt, was sich hinter der Mauer verbirgt und war mit dem vagen Wissen über irgendeine Berufsschule zufrieden. Inzwischen weiß ich: Hinter der alten Mauer liegt nicht nur die Fachberufsschule für Garten, Raum und Mode, sondern auch das Kloster Thurnfeld mit einem acht Hektar großen Grundstück. Hier wird die gemeinschaftliche Landwirtschaft der SoLaWi Thurnfeld betrieben.

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Das Kloster sieht wie ein Schlösschen aus. Als ehemaliger Sommersitz des Haller Damenstiftes beherbergte es ab 1860 eine ordenseigene Ausbildungsstätte für Mädchen. Die Mädchenschule gibt es seit 1960 nicht mehr und im Kloster leben heute drei letzte hochbetagte Schwestern. Vor dem Kloster liegt ein kleines Stückchen Grün, das der Straße zugewandt ist. Die üppig wilde und zugleich gepflegte Bepflanzung lässt mich erahnen, dass es hier eine Liebe für den Garten und die Pflanzen gibt. Das Grundstück hinter dem Kloster ist von der Straße aus nicht ersichtlich. Es muss riesig sein und die Zeiten, als es der Versorgung der Klosterbewohnerinnen diente, sind längst vorbei.

Die verborgene Fläche in dem Kloster

Bis vor zwei Jahren wurde die Klosterlandwirtschaft als Milchwirtschaftsbetrieb geführt. Als der langjährige Mitarbeiter in Pension ging, wurde das Land zur Grundfutterproduktion nicht mehr gebraucht. Die Diözese Innsbruck als Grundbesitzerin musste einen neuen Pächter suchen und hat ihn gefunden: Der Verein Emmaus betreibt hier das Projekt der Solidarischen Landwirtschaft Thurnfeld. Über diese Initiative und die gemeinschaftliche Landwirtschaft möchte ich mehr erfahren. Und so bin ich heute auf dem Weg zu dem Areal hinter dem Kloster.

Am Fuß der Berge

Ich bin am kleinen Parkplatz neben dem Kloster angekommen. Dort ist auch die Fachberufsschule, die mir vorerst noch den Blick auf die Felder verstellt. Ich gehe an der Schule vorbei und aufwärts. Bald liegen die Gebäude hinter mir und der Blick öffnet sich. Ich sehe Gemüsefelder, Wiesen und Streuobstwiesen. Nördlich der Mauer türmt sich das Karwendel mit dem dominanten Bettelwurf auf. Auf den Bergen sehe ich kein einziges Schneefeld mehr. Es ist Hochsommer und Erntezeit bei der SoLaWi Thurnfeld.

Wöchentlicher Ernteanteil

Nach und nach entdecke ich einzelne Sonnenhüte und Schildkappen: Menschen bei der Ernte. Zuerst treffe ich auf Elli Jürschik. Sie hockt am Boden und erntet Kräuter. Drei Kisten sind schon voll mit Schnittlauch und Petersilie. Sie erzählt mir, dass sie seit letztem Jahr solidarisches Landwirtschaftsmitglied ist und Kundin. Als sogenannte Ernteteilerin bezahlt sie einen Mitgliedsbeitrag für die gemeinschaftliche Landwirtschaft und bekommt dafür jede Woche einen Anteil der Ernte. Einmal die Woche kann der Ernte-Anteil drei verschiedenen Stellen in Hall und Innsbruck abgeholt werden.

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Ernteteilerin Elli Jürschik sortiert den welken Schnittlauch aus. Die Bodenfolie ist kompostierbar

Ein Smiley und ein Muskelkater

Kund:innen der SoLaWi Thurnfeld haben Sommer wie Winter Gemüse. Im zweiten Jahr der Initiative sind es bereits 105 Haushalte, die sich durch die gemeinschaftliche Landwirtschaft in Hall saisonal und regional versorgen. Elli schlichtet den Schnittlauch in die Kisten und erzählt, warum sie nicht nur Kundin ist, sondern auch manchmal an den Erntetagen bei der gemeinschaftlichen Landwirtschaft freiwillig mitarbeitet: „Ich wühle gern in der Erde und genieße es, mein und unser aller Gemüse selbst zu ernten“. Die Jin Shin Jyutsu-Praktikerin schätzt es als Ausgleich zu ihrer Arbeit: „Am Abend nach der Ernte gehe ich mit einem Smiley und einem Muskelkater nach Hause“. Mittlerweile ist die vierte Kiste voll mit Kräutern und ich helfe Elli, die Kisten in den kühlen ehemaligen Kuhstall zu tragen, wo weitere Mitarbeiter:innen die Ernte versorgen. Dann gehen Elli und ich wieder zurück aufs Feld.

Die Kunden tragen die gemeinschaftliche Landwirtschaft

Es ist schon später Vormittag und die Hitze kitzelt mich im Nacken. Ich bereue, dass ich nicht daran gedacht habe, meinen Sonnenhut mitzunehmen. Elli schaut, welche Arbeit als nächstes ansteht und hält Ausschau nach Benedikt Zecha. Er hat den Überblick und weiß, was heute noch geerntet werden soll. Die beiden sprechen sich ab und Elli geht zu den Tomaten, während ich Benedikt zu den Karfiol-Pflanzen begleite. Während er die Karfiol-Köpfe abschneidet, erklärt er mir das Konzept der gemeinschaftlichen Landwirtschaft: „Die Gemeinschaft der Kunden trägt die Landwirtschaft. Sie vertrauen darauf, dass wir das bestmöglich machen. Andererseits haben wir keinen Stress, wenn einmal etwas nicht gelingen sollte“. Die Initiative der gemeinschaftlichen Landwirtschaft besteht im zweiten Jahr und die Pflanzen stehen gut im Saft. Gewirtschaftet wird biologisch, aktuell befindet man sich noch in der obligatorischen Übergangsfrist. Sobald die vorbei ist, hat das Gemüse auch ein Bio-Zertifikat. Was die einzelnen Gemüsesorten hier nicht haben, ist ein fixer Preis. Benedikt: „So kann es nicht passieren, dass wir unsere Ernte einstampfen müssen, weil dasselbe Produkt irgendwo auf der Welt billiger hergestellt wird. Wir umgehen ganz bewusst marktwirtschaftliche Prozesse“.

Transparente Produktion und fairer Lohn

Benedikt betont, dass die Produktion für die gemeinschaftliche Landwirtschaft transparent und die Arbeit fair entlohnt ist: „Die Jungpflanzen kommen aus Südtirol. Das Gemüse wächst hier, wird hier geerntet und kommt ohne lange Transportwege zu den Kund:innen. Die Arbeit, die dahintersteckt, ist freiwillig oder ordentlich bezahlt“. Neben den freiwiligen Helfer:innen, die nach Bedarf bei Arbeitsspitzen wie zum Beispiel der Kartoffelernte dabei sind, gibt es in der gemeinschaftlichen Landwirtschaft mehrere fixe Arbeitsplätze. Das sind Benedikt als Betriebsleiter und Barbara Zangerl als Gemüsefachfrau. Und auch bis zu vier Menschen mit Suchterkrankungen, die suchtmittelfrei leben wollen. Sie bekommen bei der gemeinschaftlichen Landwirtschaft nicht nur ein fixes Einkommen, sondern auch eine sinnvolle Beschäftigung. Die SoLaWi ist ein Teil des Suchthilfeprogramms des Landes Tirol und bietet voll versicherte Arbeitsplätze.

Feldarbeit macht glücklich

Der ganze Betrieb der gemeinschaftlichen Landwirtschaft in Hall ist nun schon im zweiten Jahr und hat sich eingespielt. Benedikt: „Wir haben einen guten Rhythmus am Feld. Letztes Jahr haben wir uns jeden Tag in der Früh getroffen und dann geschaut, wer was macht. Heuer haben wir schon Erfahrungen“. Und fixe Mitarbeiter:innen, die mit den ganzen Abläufen bestens vertraut sind. Wie zum Beispiel Baqier. Er ist jeden Tag hier. Er sagt: „Mit Gemüse zu arbeiten, ist gut für die Stimmung. Es ist eine schwere Arbeit, die Freude macht“. Baqier stammt aus Afghanistan. Er erzählt, dass seine Familie dort eine kleine Landwirtschaft mit Gemüse und Ziegen zur Selbstversorgung hat. Warum er nach Tirol gekommen ist und wie es seiner Familie heute geht, möchte ich ihn lieber nicht fragen. Ich sehe, dass er jetzt hier angekommen ist. Bei der gemeinschaftlichen Landwirtschaft in Hall zählt er zum fixen Team und weiß selbstständig, was zu tun ist.

Loslösung vom Weltmarkt

Mit Mitarbeiter:innen wie Baqier ist die schwere Arbeit gut zu stemmen. Für das nächste Jahr gibt es bereits jede Menge Pläne für die gemeinschaftliche Landwirtschaft: Im Herbst soll Winterweizen gesät werden. Für Benedikt ist das nicht nur ein Anbauversuch, sondern auch „der Versuch, unseren Mitgliedern ein möglichst umfangreiches Versorgungsangebot zu machen. Und natürlich ist es auch attraktiv, sich aus internationalen Abhängigkeiten lösen zu können. Politisch sehe ich die SoLaWi im Hinblick auf die Loslösung von den Mechanismen, Zwängen, Anforderungen, Dynamiken des Marktes und die Idee, dass die Konsument:innen ein persönliches Interesse daran haben, dass die Landwirtschaft bei uns überleben kann“. Das klingt einfach, dahinter stecken aber viel Arbeit, Experimentierfreude, Know-how und der Wille zur Kooperation. Der Nachbarbauer hat bei der Ernte schon seine Unterstützung zugesagt. Und gemahlen wird das Korn in der lokalen Mühle.

Tomaten, Salat und Pastinaken: Gemüsevielfalt in der gemeinschaftlichen Landwirtschaft

Benedikt und seine Mitstreiter:innen der gemeinschaftlichen Landwirtschaft wissen, wie sie Ideen umsetzen und gehen auch Risiken ein. Im Hintergrund weiß Benedikt die SoLaWi-Kund:innen, die mit ihrem Mitgliedsbeitrag für die gemeinschaftliche Landwirtschaft das Risiko abfedern: „Unsere Kunden:innen wollen eine Versorgung unabhängig von Weltmarktpreisen. Sie bekommen unsere Produkte und kaufen andere Sachen zu“. Für Abwechslung am Speiseplan ist gesorgt. Am Thurnfeld-Areal werden über 40 verschiedene Gemüsesorten angebaut, darunter: Karfiol, Broccoli, Tomaten, Gurken, Melanzane, Paprika, verschiedene Salate, Kürbisse und Pastinaken.

Trendwende: Von der Milch zum Gemüse

Auch heute wurden wieder etliche Kisten mit Tomaten, Broccoli, Karfiol, Paprika und Asiasalaten gefüllt. Für diesen Tag ist die Ernte in der gemeinschaftlichen Landwirtschaft abgeschlossen und die Helfer:innen machen sich nach und nach auf den Weg zum umfunktionierten Rinderstall. Die letzte Kuh hat ihn vor zwei Jahren verlassen. Obwohl alles sauber ist, liegt der typische Geruch noch in der Luft. Das einzige Tier, das heute hier ist, ist der Golden Retriever einer Erntehelferin. Er wird von Baqier mit Leckerlis verwöhnt. Der Hund hat einen großen Appetit und Barbara sorgt sich, dass er zu viel abbekommt. Sie und Elli spritzen den Boden mit dem Schlauch ab und wischen das Wasser in den Kanal. Ich trinke ein Glas kühles Wasser und beobachte das Treiben.

Ein Weg aus der Sackgasse Agrarindustrie

Ein Gedanke macht sich in mir breit: Vielleicht ist das ein Ausweg aus der Sackgasse, in die uns die globalisierte Agrarindustrie geführt hat. Statt Bauernsterben, Überproduktion und Ausbeutung ein anderes Konzept, das die traditionellen Bauernhöfe vor Ort ergänzt: Eine neue Landwirtschaft, die mit den Ressourcen Boden, Pflanzen und Arbeitskraft fair umgeht. Eine Landwirtschaft, die gesunde lokale Produkte erzeugt. Und last but not least eine Landwirtschaft, die direkt für ihre Kund:innen produziert und nicht für die Geldtasche einiger weniger. Für Ernteteiler:innen, die hinter dem Projekt stehen und es gemeinschaftlich tragen.

Ich weiß, dass die SoLaWi Thurnfeld nicht alleine dasteht. Ähnliche Projekte für eine gemeinschaftliche Landwirtschaft beginnen dort Fuß zu fassen, wo Menschen sich engagieren und Flächen zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir, dass solche Initiativen bald gemeinsam mit den bestehenden regionalen bäuerlichen Betrieben mehr zu unserer Versorgung mit guten Lebensmitteln beitragen. Getragen von dieser Hoffnung mache ich mich langsam auf den Heimweg. Nicht ohne einen Sack voll mit prächtigen vollreifen Tomaten, den mir Baqier in die Hand gedrückt hat.

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