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Über mich: Stricken macht süchtig

Stricken macht süchtig

Karin Bachmann

Nachtschicht-Stricken für den einen Moment

Stricken macht süchtig. Das wusste schon meine Oma. Als Kind habe ich jedes Jahr Winterpullis von ihr bekommen. Sie hat sie nach den Vorstellungen meiner Mutter, ihrer Schwiegertochter, gemacht. Ich erinnere mich vage an Gespräche über Farben und Schnitte, zu welchen Hosen sie passen sollten und dass dabei irgendwie ein Sparsamkeitsgedanke eine Rolle spielte. Obwohl das Material, die Wolle, damals auch schon nicht mehr günstiger war als der fertig gekaufte Pullover. Gar keine Rede von den Arbeitsstunden. Heute denke ich, meine Oma wollte einfach gern etwas zu unserer Kleidung beitragen. Und zwar auf ihre eigene, persönliche und kreative Art.

Später bin ich selbst mit Bildern aus Zeitschriften zu meiner Großmutter gekommen. Habe ganze Seiten aus Modemagazinen herausgerissen und gesagt: „Schau Oma, so einen hätte ich gern.“ Und zwei, drei Wochen später hatte ich dann auch so einen.

Stricken macht süchtig. Das wusste bereits meine Großmutter. Das ist der letzte Pullover, den sie mir gestrickt hat. Danach habe ich selbst gestrickt.

Omas Pullover

An einen bestimmten Pullover erinnere ich mich besonders gut. Er war dick und warm und hatte eine spezielle Farbe, irgendetwas zwischen hellblau und taubengrau. Er war oversized, in einer Kombination aus Zopf- und Patentmuster und am Stehkragen gab es einen Reißverschluss. Ich weiß das auch deshalb so genau, weil es ein Foto davon gibt. Wir zwei sitzen auf ihrem Diwan in der Küche. Der Diwan war gerade so groß, dass eine Person darauf ein Mittagsschläfchen halten oder ein Enkelkind darauf übernachten konnte. Es war der Platz, an dem man las oder strickte, es gab ein „Leselicht“ und man setzte sich für Fotos darauf. Ich glaube, dieser Pullover war das letzte große Stück, das sie mir gestrickt hat. Danach habe ich selbst gestrickt. Die Grundlagen hatte ich in der Schule gelernt. Aber die Freude und die Lust am Stricken, das habe ich von meiner Großmutter.

Der Pullover wächst unter meinen Händen

Ich liebe es: Zuzusehen, wie ein Werkstück unter den eigenen Händen entsteht. Wie sich ein Muster oder ein Farbverlauf entwickelt. Wie das Gestrickte die Form annimmt, die der menschlichen Anatomie entspricht. Am liebsten arbeite ich nach Anleitungen, bei denen sich das ganze Kleidungsstück aus einem einzigen Teil formt. Bei Socken ist das ja immer so. Zuerst das Bündchen, dann die Ferse, dann das Käppchen. Oder man macht es umgekehrt und startet mit der Spitze.

Bei Pullovern und Jacken geht das aber auch: Man beginnt mit dem Maschenanschlag für den Nacken, dann entwickelt sich die Arbeit durch Zunahmen über die Schultern, an der Achsel werden die Ärmel abgeteilt und so weiter. Bis das ganze Stück am Ende ohne Naht von den Nadeln gleitet. Und dann gleich wieder das nächste angeschlagen wird. Ich könnte das hier ewig weiterbeschreiben. Und alle, die das gleich erleben, wissen: Stricken macht süchtig.

Nur noch eine Reihe … Stricken macht süchtig

Das Gefühl, die allerletzte Masche zu stricken, ist unbeschreiblich. Für diesen einen Moment stricken sich weltweit Menschen durch die ganze Nacht. Und aus diesem Grund haben Anleitungen auch so schöne Namen wie der vermutlich tausendfach gestrickte Night Shift-Shawl einer amerikanischen Strick-Designerin. Oder Night groove, ein Nahtlos-Jacquard-Pulli meiner liebsten deutschsprachigen Strickkünstlerin. Bei diesen Modellen braucht man zum Schluss nur die losen Fadenenden einzuweben.

Die Geduld aufzubringen, das neue Lieblingsteil vor dem ersten Tragen vorsichtig zu waschen, mit Nadeln auf Moosgummiplatten zu pinnen und zu warten, bis es sich in Form getrocknet hat — das ist abschließend die größte Herausforderung. Je nach Wolle und Wetter kann das schon ein, zwei oder auch drei Tage dauern.

Was würde meine Großmutter heute zu meinen Pullovern sagen?

Ich kann mir vorstellen, dass meiner Oma das zu viel des Aufhebens für einen neuen Pulli gewesen wäre. Oder vielleicht auch nicht? Denn auch sie wusste: Stricken macht süchtig. Ich wüsste gern, was sie zu dieser neuen Art zu stricken gesagt hätte. Sie selbst hat bis ins hohe Alter gestrickt. Am Ende zwar nur mehr kleine Stücke, aber sie hat gestrickt. Ein Paar Socken von ihr habe ich noch.

Fotos: Birgit Pichler

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